Gießener Anzeiger, 31.5.2017: Die traumatische Vergangenheit im Irak bewältigen
Landkreis Giessen
31.05.2017
Die traumatische Vergangenheit im Irak bewältigen
|
|
Von Stephan Scholz
LOLLAR/SHEKHAN – Gewalt, Hunger, Vertreibung: Seit Jahren herrscht Krieg in Syrien und im Irak, der auch geprägt ist von den schrecklichen Gewaltverbrechen des sogenannten Islamischen Staates an den Jesiden (Eziden). Unter den Barbareien leiden insbesondere die Kinder: „Durch den militärischen Sieg des IS und die folgenden Gräueltaten gibt es sehr viele Waisenkinder“, erzählt Dr. Gerhard Noeske, Vorsitzender der in Lollar beheimateten Christlich-Ezidischen Gesellschaft. Durch einen Besuch im Nordirak im Herbst 2014 sei die Gesellschaft auf das Schicksal dieser Waisen aufmerksam geworden. Um Abhilfe zu schaffen, entschied man sich, ein Waisenhaus im jesidischen Dorf Shekhan nahe Duhok im irakischen Teil der Region Kurdistan einzurichten. Dabei wird die Gesellschaft unterstützt durch eine jesidische Organisation, die Träger des Hauses „Helina Sewiya“ ist, und durch die Spenden von Privatpersonen aus dem Irak. Ohne Unterstützung von einheimischen Mitstreitern hätte die Gesellschaft die Einrichtung des Hauses, in das im März 2016 nach der Eröffnung 21 Kinder und vier Witwen eingezogen sind, nicht bewerkstelligen können, denkt Noeske. Aber: „Was wir hier gemacht haben, ist unseres Wissens einmalig“, meint der Wettenberger, mit Dr. Irfan Ortac Vorsitzender der Gesellschaft.
Um den Kindern ein Domizil zu schaffen, haben die Partner eine Villa gemietet. „Wir können von Deutschland aus einiges anstoßen wie zum Beispiel ein pädagogisches Konzept. Aber die eigentliche Arbeit muss von Mitarbeitern vor Ort geleistet werden, und wir sind sehr glücklich, dass wir erfahrene Mitstreiter gefunden haben.“
Die Grundidee des Hauses, in dem Versorgung, Betreuung und Schulbildung für aktuell mehr als 50 Kinder gesichert sind, sei angelehnt an jene der SOS-Kinderdörfer. „Helina Sewiya ist kein klassisches Heim. Wir etablieren dort vielmehr Familienstrukturen“, erläutert der Wettenberger. Kern der Konzeption ist es, dass Witwen aus der Region in kleinen Gruppen mit fünf bis sechs Kindern zusammenleben, um so zu deren Bezugspersonen zu werden. Hintergrund der Idee: Stabile Beziehungen in den Gruppen und zur Dorfgemeinschaft sollen es den Kindern ermöglichen, die traumatische Vergangenheit zu bewältigen und altersgemäße Reifungsprozesse zu durchlaufen. Neben der Erziehung durch das Personal des Hauses und ärztlicher Versorgung finden die Kleinen Unterkunft, Lebensmittel und Zugang zum täglichen Schulbesuch.
Zwar sei es in der Region durchaus üblich, dass Kinder, die ihre Eltern verloren haben, bei Verwandten aufwachsen – im kurdischen Nordirak leben unter den Flüchtlingen rund 2800 Waisenkinder. „Wir erfahren aber auch, dass diese Kinder aus den Schulen genommen werden, um arbeiten oder betteln zu gehen. Das tun sie bei uns eben nicht“, betont Noeske. Es sei nicht so einfach, Kinder und Jugendliche in der Region in Schule und Ausbildung zu bringen. Gerade deshalb gelte es, immer wieder zu erzählen, dass Bildung und Freiheit für die Menschen Zukunft bedeutet.
„Das Haus ist jetzt ein Jahr alt. Wir lernen dazu“, berichtet der Mittelhessen. Auch habe man in der Einrichtung, die für die Sprösslinge schulische Nachhilfe anbietet, noch nicht vollständige Stabilität erreicht. Dennoch haben die Partner nun ein zweites Haus eröffnet, das nach Informationen der Christlich-Ezidischen Gesellschaft vom Land Hessen unterstützt wird. „Die ersten Bewohner sind schon drin, eine Frau und vier Vollwaisen“, berichtet der Wettenberger, der mit Blick auf die gespendeten Gelder erklärt, dass die Bücher alle drei bis vier Monate geprüft werden.
„Wir kommen mit Mitteln aus, für die andere nicht mal ein Büro einrichten würden. Aber wir brauchen natürlich Spenden“, so der Vorstand. Mittlerweile verfüge das Projekt über einen überregionalen Kreis von Freunden und Unterstützern. „Die nächste Zeit halten wir durch“, sagt Noeske. Er freue sich jedes Mal, wenn Post von irgendjemandem ankomme und sich darin eine Spende finde. Der Bedarf: Für jedes Haus brauche man 500 Unterstützer, die bereit sind, jeden Monat zehn Euro zu geben, teilt die Christlich-Ezidische Gesellschaft in einer schriftlichen Mitteilung mit.
Zu den Unterstützern zählt auch Özkan Ortac, der im vergangenen Februar in Lollar den „Waisenhaus-Fußballcup der Ezidischen Gemeinde Hessen“ organisiert hat.
Insgesamt 16 Mannschaften nahmen teil an dem Turnier, bei dem 1731 Euro für das Waisenhaus in Shekhan zusammenkamen, auch durch den Speisen- und Getränkeverkauf der Gesellschaft und heimische Sponsoren.