Reisebericht Ostern 2017

In der dritten Aprilwoche waren wir wieder selbst in Kurdistan und haben unsere Waisenhäuser besucht.

Wir – Dr. Irfan Ortac, Dr. Gerhard Noeske und Stephan Coester – hatten einen vollen Zeitplan. Neben der wichtigen Zeit im Waisenhaus mit den Kindern, den Frauen und unseren Partnern von Ain Sifini haben wir uns mit wichtigen politischen und geistigen Führern der Region getroffen. Dabei verfolgten wir das Ziel, die politischen Rahmenbedingungen für unsere Waisenhäuser zu sichern und uns ein Bild der Situation nach der Befreiung weiter Landstriche vom IS zu machen. Dank unserer hervorragenden Beziehungen konnten wir in die befreiten Gebiete der Region Shingal und bis nach Bashika kurz vor Mosul reisen.

Diese politischen Kontakte sind sehr wichtig, um zum einen die dauerhafte Unterstützung der Waisenhäuser zu sichern, aber auch, um Kontakt zu neuen Waisen und Witwen herzustellen.

In der Region Kurdistan hat sich eine regelrechte Industrie rund um die Flüchtlinge und die westlichen Hilfsorganisationen entwickelt. Die Menschen vor Ort sehen das viele Geld, das in die Region fließt und suchen nach Möglichkeiten, persönlich davon zu profitieren. Viele – zum großen Teil selbsternannte kurdische Spezialisten – sehen die Flüchtlinge und die westlichen Hilfsorganisationen in erster Linie als potentielle Einnahmequellen.

Wir sind in der überaus glücklichen Lage, mit „Ain Sifini Organization for Community Development“ zusammenarbeiten zu können. Die Mitglieder von Ain Sifini sind wohl gestellte Bürger der Stadt Shekhan, Ärzte, Lehrer und ezidische Geistliche. Sie verfolgen keine Eigeninteressen und sind mit vollem Herzen dabei.

Dank der großzügigen Spenden und der Hilfe unserer Freunde von Ain Sifini können wir weitere Erfolge vermelden.

Die Um- und Ausbauarbeiten an unserem zweiten Haus sind im vollen Gange. Zurzeit werden zwei zusätzliche Zimmer auf bisher ungenutzten Dachterrassen gebaut. Damit stehen uns im zweiten Haus in der Zukunft 6 Zimmer für bis zu 30 Kinder und Frauen zur Verfügung. Das zweite Haus verfügt zudem über einen großen Garten, den die Kinder aus beiden Häusern nutzen können. Dort werden wir auch einen Gemüsegarten anlegen, den die Frauen und Kinder bewirtschaften werden.

Noch während der Arbeiten konnten wir 7 Kindern und eine Witwe aufnehmen. Samira (35 Jahre) und ihre drei Kinder (6–12 Jahre alt) stammen aus dem Ort Girzerik. Dies war der erste Ort, der am 03.08.2014 vom Islamischen Staat angegriffen wurde. Samira und ihre Kinder mussten miterleben, wie die Bevölkerung des Dorfes acht Stunden Widerstand gegen die IS-Truppen geleistet hat, um dann zu fallen. Der Vater der Familie wurde vom islamischen Staat getötet. Samira und ihre Kinder konnten sich ins Gebirge retten. Bevor Samira und Ihre Familie zu uns kamen, lebten Sie in Bauruinen. Nun haben Samira und ihre Familie eine neue Heimat und eine Zukunftsperspektive gefunden. Die Kinder können wieder eine ordentliche Schule besuchen und werden von unserer Pädagogin Susann unterstützt.

Zudem konnten wir vier Vollwaisen aufnehmen, die sich vor ihrem Onkel zu uns geflüchtet haben. In der kurdischen Kultur übernehmen traditionell die Familien väterlicherseits die Verantwortung für die Waisen. In diesem Fall – der keine Ausnahme ist – wurde den Kindern der Schulbesuch verweigert. Häusliche Gewalt gehörte zum Alltag. Die Kinder wurden zum Arbeiten und Betteln gezwungen. Bar jeder Zukunftsperspektive. Als die Kinder von unserer Arbeit erfahren haben, sind sie zu uns gekommen. So können die vier Geschwister zwischen 16 und vier Jahren zusammenbleiben und haben – wie alle unserer Kinder – eine echte Zukunftsperspektive. In Samira haben sie eine neue Mutter gefunden. Samira hat die vier Geschwister angenommen und lebt mit ihren nun sieben Kindern als Familienverband in unserem zweiten Haus. Diese Konstellation entspricht genau unserem ursprünglichen Konzept.

Das Leben in unserem ersten Haus läuft in regelmäßigen Bahnen und ist für die Kinder und Frauen zum normalen Alltag geworden. Genauso haben wir es uns gewünscht. Im ersten Haus wohnen 15 Personen. Sechs Vollwaisen im Alter von 6 Jahren bis 23 Jahren mit ihrer Großmutter. Die älteste Schwester hat – mit Unterstützung unserer Pädagogin Samira – die Rolle der Mutter übernommen. Selbstverständlich haben wir auch die Großmutter als Überlebende aufgenommen und nicht allein in einem Flüchtlingslager zurückgelassen. Die Kinder haben mit ansehen müssen, wie ihre Eltern ermordet wurden. Umso schöner ist es zu sehen, dass Kinder in der Sicherheit unseres Hauses wieder lachen, unbeschwert spielen und mit großer Begeisterung lernen. 

Daneben lebt Wadha (39 Jahre) mit ihren fünfen eigenen Kindern (3–14 Jahre) und drei Vollwaisen (8–15 Jahre) in unserem ersten Haus. Das Zusammenleben der Familien ist von gegenseitigem Respekt und Unterstützung geprägt.

Das erste Haus beherbergt auch unseren Unterrichtsraum.

Unser Konzept hat nachweislich die Feuerprobe überstanden. Mit zwei Häusern in Shekhan, der Unterstützung unserer Freunde von Ain Sifini und einem eingespielten Team von Pädagoginnen können wir uns den anstehenden Aufgaben widmen.

 

Waisenkinder bei der Erledigung der Schulaufgaben

Für die jetzigen Bewohner unserer Häuser wollen wir das pädagogische Angebot vertiefen. Wir werden die Hausaufgabenbetreuung und den Nachhilfeunterricht intensivieren. Darüber hinaus kommen ein Musiklehrer und ein Kunstlehrer in unser Haus. Es hat uns sehr bewegt zu sehen, mit welcher Freude die Kinder am Unterricht teilnehmen und miteinander lernen. Bei der Gelegenheit hat auch Stephan noch einmal die Schulbank gedrückt.

Für die älteren Kinder, die keine Schule mehr besuchen können, werden wir Ausbildungsplätze finden, um den Mädchen eine Alternative zu einer frühen Heirat und den Jungs eine Alternative zum bewaffneten Dienst in einer Miliz zu bieten.

Da alle Kinder und Frauen traumatisiert sind, werden wir mit lokalen Traumaspezialisten zusammenarbeiten. Diese werden den Kindern und Frauen helfen, die schrecklichen Erlebnisse zu verarbeiten, um so schwerelos wie möglich zu leben.

Eine wichtige Aufgabe der Pädagoginnen ist neben der Betreuung der Kinder auch die Aktivierung der Frauen. Unser Ziel ist es, dass die Frauen wieder Schritt für Schritt die volle Verantwortung für ihr Leben und ihre Familien übernehmen. Dazu gehört die Verantwortung für die Erziehung der Kinder, das Familienbudget aber auch die Bewirtschaftung unseres eigenen Gemüsegartens. So können die Frauen wieder Selbstbewusstsein und Vertrauen in ihre Fähigkeiten entwickeln. Nach den schrecklichen Erlebnissen und der Zeit im Flüchtlingslager braucht es viel Fingerspitzengefühl und Geduld der Pädagoginnen.

Gut, dass sie bei ihren vielfaltigen Aufgaben durch den Vorstand von Ain Sifini unterstützt werden. Unsere Freunde sind täglich in den Häusern. Alle Kinder haben ihre Väter verloren. Die Vorstände sind den Kindern Vater, Onkel und großer Bruder zugleich. Sie sind neben den Müttern und Pädagoginnen die männlichen Bezugspersonen für die Kinder. 

Da unsere Strukturen nun stehen und wir noch freie Kapazitäten in unseren Häusern haben, geht die Suche nach geeigneten Kindern und Frauen weiter. Dabei ist Geduld gefragt. Wir bezahlen prinzipiell kein Geld für die Kinder und achten darauf, dass die Waisen und Witwen für sich eine langfristige Perspektive in unseren Häusern sehen. In den kommenden Wochen werden weitere Waisen und Witwen einziehen. Langsam, Schritt für Schritt, wollen wir unsere Kapazitäten füllen, um eine sorgfältige Integration der neuen Bewohner sicherzustellen.

Mit nun zwei Häusern und perspektivisch fast 50 Waisen und Witwen wächst natürlich auch der finanzielle Druck. Obwohl wir äußerst sparsam wirtschaften, müssen wir ca. 10.000 € pro Monat aufbringen. Dauerhaft und langfristig. Auch dann noch, wenn der Konflikt in Kurdistan vergessen und durch neue Schreckensbilder aus den Nachrichten verdrängt sein wird. Wir haben den Kindern versprochen, sie zu begleiten, bis sie auf eigenen Beinen stehen, einen Beruf ausüben und in Würde leben können. Dieses Versprechen werden wir einlösen. Daher sind wir weiterhin auf die Großzügigkeit der Spender angewiesen. Bitte unterstützen Sie die Waisen und Witwen in Kurdistan.

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